Um gelingende Bildungsbiografien zu ermöglichen, braucht es präventive und intervenierende Konzepte sowie eine Kooperation von verschiedenen Akteuren

Interview mit Manuela Demant und Matthias Finken aus der Stadt Krefeld

Acht Uhr. Die Schulglocke läutet. Eigentlich ein ganz normaler Start für Kinder und Jugendliche in den Tag. Aber nicht alle Kinder und Jugendliche besuchen regelmäßig die Schule. Die Gründe für Schulabsentismus sind dabei vielfältig: Ob Mobbing, Leistungsdruck, psychische Probleme oder auch ein instabiles Elternhaus, schlechte Schüler-Lehrer*innen-Beziehungen oder andere Schwierigkeiten halten einige Schüler*innen vom Besuch des Unterrichts ab. Was aber können Schulen und Kommunen tun, um gefährdeten Kindern und Jugendlichen wieder eine Perspektive zu bieten, am Schulunterricht teilzunehmen?

Die Stadt Krefeld hat dazu eine Clearingstelle eingerichtet. In dieser kommen Vertreter*innen aus der Jugendhilfe, aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dem Schulpsychologischen Dienst und aus dem Kommunalen Integrationszentrum zusammen. Einmal im Monat treffen sie sich, um in Fallkonferenzen die aktuellen Anliegen zu besprechen.

Die Transferagentur sprach mit Manuela Demant (Leitung Regionales Bildungsbüro der Stadt Krefeld) und Matthias Finken (Jugendamt der Stadt Krefeld).
 

Wie kam es in Krefeld zur Idee einer Clearingstelle?

Manuela Demant: Im Rahmen des BMBF-Programms „Bildung Integriert“, das im Regionalen Bildungsbüro angesiedelt war, wurde der Arbeitskreis „Schulerfolg sichern – Schulabsentismus vermeiden“ gleich zu Projektstart ins Leben gerufen. Der Arbeitskreis besteht aus Akteur*innen des Regionalen Bildungsbüros, der Krefelder Schulen, der Jugendhilfe, des Kommunalen Integrationszentrums, der Schulsozialarbeit, des Schulpsychologischen Dienstes, der Präventionsketten und der Kinder- und Jugendpsychiatrie und hat zum Ziel, Handlungsbedarfe zu identifizieren und Strategien im Umgang mit dem Thema Schulabsentismus zu entwickeln.

Im Laufe der gemeinsamen Arbeit stellte sich schnell heraus, wie wertvoll es ist, wenn Menschen verschiedener Professionen, die alle in ihrer Arbeit mit dem Thema Schulabsentismus befasst sind, zusammenkommen und das Thema gemeinsam angehen können.

Matthias Finken:  Der Umgang mit Schulmüdigkeit erfordert präventive und intervenierende Konzepte und eine Kooperation von Schule, Jugendhilfe, Beratungsstellen, der LVR-Tagesklinik sowie den betroffenen Familien, um gelingende Bildungsbiografien zu ermöglichen, abgebrochene Schullaufbahnen zu verhindern und junge Menschen wieder an das Regelsystem heranzuführen. Ein innovativer Schritt war die Einrichtung einer Clearingstelle Schulabsentismus, die mit bereits bestehenden Ressourcen umgesetzt werden kann.
 

Wie arbeitet die Clearingstelle? Warum ist eine Kooperation von verschiedenen Professionen so wichtig?

Manuela Demant:  Um den betroffenen Kindern, Jugendlichen und Familien ein schnelles unbürokratisches Unterstützungsangebot machen zu können hat das interdisziplinäre Team der Clearingstelle die Aufgabe, im Rahmen einer kollegialen Fallberatung die Einzelfälle mit der jeweiligen fachlichen Expertise zu prüfen, Maßnahmen anzuregen bzw. weiterzuentwickeln. Dazu treffen sich die Akteure der Clearingstelle sich monatlich und erhalten im Vorfeld einen Meldebogen durch die fallvorstellende Fachkraft.

Matthias Finken:  Der Meldebogen wird anonym ausgefüllt und durch die Fachkraft – meist aus der Schulsozialarbeit – vorgestellt. Die Fallkonferenz beinhaltet die Erörterung, Abstimmung und Koordinierung von Maßnahmen und Interventionen. Anschließend findet die Kontaktaufnahme mit den Kindern, Jugendlichen und Familien auf Fachkräfteebene statt. Die jeweiligen Ergebnisse werden protokolliert, mit dem Ziel der Reintegration in Schule oder der Vermittlung in ein Angebot zur beruflichen oder sozialen Integration. Nach drei bis sechs Monaten werden die Ergebnisse der Interventionen gemeinsam mit den Fachkräften evaluiert. Darüber hinaus erhalten alle Fallvorstellenden einen Bewertungsbogen, um die Arbeit der Clearingstelle einzuschätzen und stetig zu verbessern.
 

Welche Fälle werden in der Clearingstelle besprochen? Und ab wann zählt dabei ein Fehlen in der Schule als Schulabsentismus?

Matthias Finken:  In der Clearingstelle werden Fälle aller Schulformen besprochen. Die Priorisierung erfolgt innerhalb des interdisziplinären Teams.  Inhaltlich richtet sich das Angebot an Schülerinnen und Schüler, die die Schule aktiv verweigern. Hierzu zählt „Schulschwänzen“, also Schulversäumnisse, die auf Initiative der Schülerinnen und Schüler zurückgehen und worüber die Erziehungsberechtigten häufig keine Kenntnis haben. Auch “Schulverweigerung“ gehört zu den Fällen, die besprochen werden. Die Schülerinnen und Schüler haben hier auf Grund vielschichtiger Problemlagen Schwierigkeiten, den Unterricht zu besuchen. Bei dieser Zielgruppe ist ein Fehlen über Monate und Jahre charakteristisch. Hinzu kommen Fälle, wo Eltern ihre Kinder aktiv zurückhalten. Hier geht die Initiative also von den Erziehungsberechtigten aus. Die Gründe können sehr vielschichtig sein, wie beispielsweise Begleitung zu Ämtern und Ärzten, psychische Krankheiten, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, eigene negative Schulerfahrungen und vieles mehr. Wir können bei den schulabsenten Schülerinnen und Schülern also nicht von einer homogenen Gruppe sprechen.

Manuela Demant:  Wichtig ist die Früherkennung sowie die lückenlose Dokumentation der Abwesenheit. Ebenso wichtig ist es, das Kollegium für das Thema Schulabsentismus zu sensibilisieren und eine gemeinsame Haltung an der Schule zu entwickeln. Beispielsweise ist das Kollegium überhaupt motiviert, sich für häufig fehlende Schülerinnen und Schüler einzusetzen?

Einen allgemein gültigen Grenzwert, ab wann es sich um Schulabsentismus handelt, gibt es nicht. Im Arbeitskreis haben wir uns darauf geeinigt, von Schulabsentismus zu sprechen, wenn eine Schülerin oder ein Schüler im Schulhalbjahr über 25 unentschuldigte Fehlstunden in Grundschulen beziehungsweise über 80 unentschuldigte Fehlstunden in weiterführenden Schulen aufweist.
 

Wie geht es weiter nach einer Fallbesprechung? Welche konkreten Hilfen bietet die Stadt Krefeld für Kinder beziehungsweise Jugendliche, Eltern und Schulen an?

Matthias Finken: Die fallvorstellende Fachkraft erhält von den teilnehmenden Institutionen Empfehlungen. Diese können von einer Therapie an der Tagesklinik über Angebote für die Eltern bis hin zur Einbeziehung der bezirklichen Sozialarbeit reichen. Die Clearingstelle verknüpft die bereits vorhandenen Angebote miteinander, so dass bestehende Ressourcen aufeinander abgestimmt werden können. Daher kommt der Evaluation nach drei bis sechs Monaten eine besondere Bedeutung zu, um gegebenenfalls Förderlücken zu identifizieren. Mit unterschiedlichen Vereinbarungen wie beispielsweise der Kooperationsvereinbarung Jugendhilfe - Schule, einem abgestimmten kommunalen Kinder- und Jugendförderplan, einer bald erscheinenden Handlungsempfehlung für Schulabsentismus und eben der Clearingstelle – um nur einige Beispiele zu nennen – sind wir auf einem sehr guten Weg.

Manuela Demant:  Durch das bestehende Netzwerk der Clearingstelle hält die Stadt Krefeld ein vielschichtiges Beratungsangebot vor, das im Sinne der Schülerinnen und Schüler effektiv und effizient aufeinander abgestimmt werden kann. Das spart Ressourcen und verhindert den Aufbau von Parallelstrukturen.
 

Hat sich das Thema Schulabsentismus durch Corona noch verschärft? Wie ist generell die Entwicklung in der Stadt?

Matthias Finken:  Durch Gespräche mit unseren Fachkräften an den Schulen kann ich feststellen, dass durch Corona das Thema Schulabsentismus auch im Primarbereich eine größere Bedeutung bekommen hat. Die Pandemie wirkte wie ein Brennglas auf unterschiedliche Problemlagen, die bereits vorher unterschwellig innerhalb der Familien bestanden. Durch die Isolation entstanden oder verstärkten sich Depressionen und Antriebslosigkeit. Kinder oder Eltern hatten Angst sich mit Covid 19 anzustecken. Ein erhöhter Medienkonsum machte das analoge Leben unwichtiger und durch den Online-Unterricht war es einfacher sich zu entziehen.

Manuela Demant:  Belastbare Zahlen dazu haben wir nicht. Aber auch aus den Schulen werden vermehrt Probleme mit Schulabsentismus thematisiert. Insbesondere die angstinduzierte Schulvermeidung scheint deutlich zugenommen zu haben. Die Zunahme macht sich auch beim Schulpsychologischen Dienst bemerkbar.
 

Gibt es in Ihrer Stadt ein kontinuierliches Monitoring zum Thema Schulabsentismus?

Manuela Demant:  Vor Ausbruch der Pandemie hatten wir eine Befragung der Schulen geplant, um eine belastbare Datenlage zu erhalten. Hier war es vorgesehen, nach dauerhaft unentschuldigten Fehlzeiten zu fragen, nach Veränderungen zum vorherigen Schulhalbjahr oder auch nach den vermuteten Gründen für die Fehlzeiten. Weiter ist die Art der Dokumentation der Fehltage an den Schulen interessant sowie die schulseitigen Angebote zur Prävention und Intervention. Da aber die Umfragewerte coronabedingt vermutlich nicht repräsentativ gewesen wären, wurde die Befragung erst einmal verschoben. Sie soll in diesem Jahr erstmals stattfinden und dann in regelmäßigen Abständen wiederholt werden, um so ein kontinuierliches Monitoring aufzubauen.
 

Wie wichtig sind präventive Maßnahmen?

Manuela Demant:  Meiner Meinung nach ist die Prävention der wichtigste Baustein, auf den die Schulen setzen können. An erster Stelle steht hierbei die Beziehungsgestaltung, also das Bemühen, möglichst alle Schülerinnen und Schüler durch Beziehungs- und Lernangebote schulisch und unterrichtlich einzubinden und Schule auf diesem Weg positiv erlebbar zu machen. Die Einbindung der Schule in den Sozialraum und damit einhergehende Kooperationen zwischen Schule und Sozialraumpartnern ist eine weitere präventive Strategie. Hier ist auch die Kenntnis über das Netzwerk der Hilfen wichtig. Diese und weitere wichtigen Strategien fassen wir derzeit in einem „Handlungsplan Schulabsentismus für Krefelder Schulen“ zusammen, der im Rahmen des Arbeitskreises entwickelt wird.

Matthias Finken:  Auch ich halte präventive Maßnahmen für sehr wichtig. Die Haltung und Sensibilisierung für das Thema Schulabsentismus sind unabdinglich. Konkret meine ich damit auch eine Verbesserung der Datenlage durch ein Monitoring zum Schulabsentismus, sowohl quantitativ als auch qualitativ, um auf dieser Grundlage konkrete und zielgenaue Angebote initiieren zu können. Denkbar wären hier frühe Interventionen, Förderung und höhere Anerkennung der Schülerinnen und Schüler (auch der Leistungsschwachen) durch eine entsprechende Schulkultur, Beteiligung der Eltern am Schulleben, an Angeboten im Sozialraum etc.
 

Was brauchen Kinder und Jugendliche aus Ihrer Sicht, damit sie gerne zur Schule gehen? Was müsste sich vielleicht auch an den Schulen und Strukturen ändern?

Manuela Demant:  Für mich ist die Haltung der Schule und der Lehrkräfte das A und O. Es ist ein Unterschied, ob Schulabsentismus vornehmlich als schulrechtliches Problem behandelt wird, das durch gesetzlichen Schulzwang und Auferlegung eines Bußgeldes, Zwangszuführung oder Ordnungsmaßnahmen geahndet wird. Oder ob die Teilhabe am Unterricht als ein pädagogisches Ziel verfolgt wird, das auch eine bestimmte pädagogische Haltung impliziert. Ein Schulklima, das den Schülerinnen und Schülern signalisiert, dass sie und ihre Anwesenheit wichtig sind, dass ihre Sicherheit beispielsweise vor Mobbing gewährleistet, das die Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung anerkennt und mit Eltern und Partnern im Sozialraum kooperiert, wirkt sich eher förderlich zumindest auf die Verringerung von Schulabsentismus aus.

Matthias Finken:  Kinder und Jugendliche benötigen meiner Meinung nach eine gut ausgebaute, aufeinander abgestimmte Bildungsinfrastruktur,weg von einer Defizitorientierung hin zum Stärkenmanagement. Hierzu gehört für mich neben der formalen Bildung auch die non-formale Bildung, die einerseits über AGs wie beispielsweise Theater-AGs, Angebote der Schulsozialarbeit oder auch Kooperationen mit außerschulischen Partnern in den Schulen angeboten werden. Zusätzlich stehen Angebote in Jugendzentren, Sportvereinen, Museen etc. zur Verfügung. Werden Kinder und Jugendliche vor Ort mehr in diese Angebote integriert, kann gesellschaftliche Teilhabe und somit eine Verbesserung von Chancengleichheit erreicht werden. Ein Zusammenspiel aus werk- und erlebnispädagogischen Elementen kann in Zukunft dazu beitragen, Schule als positiven Lern- und Lebensort zu begreifen. Dazu zählt auch der Ausbau der attraktiven Angebote an Schulen, die schon jetzt beispielsweise durch den offenen Ganztag implementiert sind. Um einen gelingenden Übergang von Grund- und weiterführenden Schulen auf dem Weg Richtung Ausbildung in ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, bedarf es einer Vernetzung aller vorhanden Akteure. Die Eltern müssen aktiviert werden, denn sie sind verantwortlich und sollten sich für gelingende Bildungsbiographien ihrer Kinder einsetzen.

Wir bedanken uns für das Gespräch.